Durch die langen Reparaturmaßnahmen blieb ich deutlich länger in Ulan Bator als geplant. Die Stadt konnte ich mir dabei noch gar nicht näher ansehen. Aber eventuell überzeugt sie ja im Detail. Negativ.
Es regnet und das Wasser steht mehrere Zentimeter hoch in den Straßen. Kein Grund für die Autofahrer auch nur einen Hauch langsamer zu fahren, wenn Fußgänger in der Nähe sind. Dabei amüsieren sich die Fahrer wie kleine Kinder. Das habe ich schon die ersten Tage in der Mongolei festgestellt: Insbesondere die mongolischen Männer sind irgendwie Kind geblieben. Wer das partout als lohnenswertes Ziel ansieht, kann es hier erleben…und seine Meinung getrost überdenken. Es hat was Nettes, als sich z. B. die Erwachsenen mit großem Gelächter hinter ihren Pferden, Gers oder hinter hohen Grasbüschel verstecken, als ich mit meinem Motorrad zur Gergruppe in der Nähe von Uliastac fuhr, und immer wieder ein neues Versteck suchten, wenn ich sie dann doch entdeckte. Und die ganze Zeit mit großen Augen und den schnellen hektischen Bewegungen wie beim kindlichen Versteckspielen. Auch klasse, wenn Erwachsene Süßigkeiten kaufen…für sich. Nicht eine Tafel Schokolade oder ein Packung Guttis. Es sind mehrere Kilos. Und dann werden im Geschäft die eben zusammengestellten Süßigkeitstüten geöffnet, alles ausprobiert und jedem Umstehenden angeboten. Jeder langt zu, als hätte es die letzten Dekaden nichts Süßes gegeben und es auf absehbarer Zeit auch nicht mehr geben wird, obwohl sie kurz darauf selbst einen Kofferraum voll kaufen werden. Es ist anstrengend, wenn etwas Ernsthaftigkeit angebracht wäre, wie z. B. im Straßenverkehr oder bei Reparaturen.
Als ich von einem etwa 7 jährigen Jungen „geschlagen“ werde, weil ich ihn daran hindere, mein soeben bestelltes Essen weg zu nehmen, beschließe ich, genug gesehen zu haben in diesem Land. Der Junge wirkte weder hungrig noch arm. Er sah wohl genährt und gepflegt aus und hatte neue Klamotten an. Also offensichtlich kein Straßenkind. Es war schon witzig, denn es tat natürlich nicht weh, aber ich konnte so einfach nicht essen. Und es war absurd. Apropos Gewalt. Noch nie zuvor habe ich Gewalt auf offener Straße in solch Häufigkeit gesehen. Nahezu täglich sehe ich, wie Männer Frauen schlagen, egal wo im Land. Ein Mann und eine Frau schlagen sich gegenseitig, während er Auto fährt. Ein Mann spricht eine Frau an, scheinbar nicht sehr nett, denn sie antwortet, indem sie in ihre Einkaufstasche greift und eine soeben gekaufte Eisteeflasche nimmt und ihm unvermittelt ins Gesicht wirft. Was auch immer er gesagt hat, es war wohl ein Nein. Er wird froh gewesen sein, dass die Zeit der PET-Flaschen in der Mongolei längst begonnen hat.
Man soll bekanntlich gehen, wenn’s am Schönsten ist…???…oder in diesem Fall, wenn man merkt, dass es nicht besser wird. Also Sachen packen und los. Das dauert. Da merke ich erst, dass ich noch keinen Tag Erholung hatte. Also bleibe ich noch nen Tag und zieh für ne Nacht in ein Ger. Meine letzte Nacht in der Mongolei und die erste Nacht in einem Ger. Dadurch spare ich mir am nächsten Morgen die Zeit zum Packen des Zelts und kann nach nem Kaffee sofort los. Traumhafte Landschaft. Das Land kann so schön sein…
Dauerte die Einreise einen ganzen Tag, so bin ich innerhalb einer Stunde durch die Kontrolle und zurück in Russland. Die Unterschiede sind auffällig. Die Menschen sind aufgeschlossener, interessieren sich für einen und versuchen einen, trotz Sprachbarriere, eher zu verstehen. Nun gut, nicht alle.
Mein erstes Ziel ist Ulan-Ude, wo mein an mich selbst versendetes Paket warten soll. Da bin ich aber mal gespannt. Aber ohne Probleme erhalte ich mein Paket vollständig ausgehändigt. Das war ja einfach. Noch eine Unterkunft finden und die nächsten Tage planen. Ich folge der Empfehlung eines Reiseführers und quartier mich in einem Backpacker-Hostel ein. Eine Toilette für zwanzig Reisende. Immunsystem was willst Du mehr? Wenn das Versenden eines Pakets innerhalb Russlands so problemlos klappt, dann wage ich doch gleich mal das nächste Level: Ein Paket ins Ausland. Ich brauche nicht mehr die gesamte Ausrüstung nach der Mongolei und die unterwegs erhaltenen Geschenke werden auf dem Motorrad auch nicht besser. Der Sohn der Guesthouse-Familie will demnächst auch etwas ins Ausland schicken und will sehen, was es zu beachten gibt. Daher bietet er mir seine Hilfe an. Zum Glück. Ohne ihn hätte ich es nicht in der Rekordzeit von vier Stunden geschafft, wenn überhaupt. Zig Formulare (auf Russisch) ausfüllen, ein weißes Stoff-„Kleid“ fürs Paket schneidern lassen (ich hab’s selbst nicht glauben wollen, ist aber so) und an drei verschiedenen Schaltern anstehen. Am Ende waren wir froh, dass wir es überhaupt geschafft haben. Es ist später Nachmittag und ich wollte eigentlich an dem Tag nach Irkutsk. Das sind knapp 500 km. Hmm…das schaffe ich noch. Zwar etwas spät, aber ich schaff’s tatsächlich. Wieder fällt die Wahl der Unterkunft auf ein Hostel. Brauch ich nicht zu oft. Meine Maschine findet ihre Nachtruhe auf einem angeblich bewachten Parkplatz. Am nächsten Tag will ich Irkutsk erkunden. Ganz nett, aber Ulan-Ude gefiel mir besser. Ich beschließe, noch am selben Tag nach Olchon aufzubrechen. Irgendwie schwindet die Zeit wie nichts und als ich zum Hostel zurück kehre, ist es Abend. Spätes Auschecken kostet extra. Na, dann bleib ich doch gleich noch hier. Hätte ich besser mal nicht gemacht. Ich komme mit einem Österreicher bei einer Nachbarwohnung unter. Es kommt ein Chinese dazu, der unglaublich anstrengend ist. Er redet und redet und hat immer Recht, sagt er. Zumindest weiß ich jetzt, warum in ganz Russland noch Lenin-Statuen stehen und meist die Hauptstraße eines Orts nach ihm benannt ist: Er hat die Welt gerettet. Ich werde alt. Das habe ich glatt vergessen.
Am nächsten Morgen früh raus und ab zum Baikalsee. Und dann war mein Motorrad unerwartet leicht. Das musste ich erst mal verdauen. Die Angestellte des Guesthouse tat alles, was in ihrer Macht stand: Umdrehen und gehen. Good bye Werkzeug, good bye Erstazteile, good bye Digitalkamera, good bye Sicherungsfestplatte mit allen Bildern und Videos der Reise, good bye Zubehör der in Irkutsk neu gekauften Motorradvideokamera. Good bye…und das ist wirklich erstaunlich: Motronic-Stecker meiner BMW. Was auch immer es ist (es steuert das Benzingemisch und den Zündzeitpunkt der Zündkerzen), beachtlicher ist: Es befindet sich unter meinem (verschlossenen) Sitz. Ohne Schlüssel kommt man da nicht hin. Auch auffällig, dass am Koffer keine Aufbruchspuren sind. Egal. Das Motorrad war noch da. Hatte es ja auch angekettet. Ok, dann ohne Ballast weiter. Mein iPhone und gleichzeitig meine Navi spinnt das erste Mal auf der gesamten Reise. Also verpasse ich die Abfahrt, die wie üblich nicht ausgeschildert ist, und fahre viele Kilometer in die falsche Richtung. Irgendwann merke ich es und drehe um. Ich will gerne die Fähre nach Ust-Bargusin erwischen, die nur einmal in der Woche fährt. Dadurch würde ich mir 800 km Straße sparen. Und ich werde sie verpassen. Und zwar mit Stil. Ich komme an und die normale Fähre fährt ab. Normal. Die nächste fährt in über einer Stunde. Die eigentliche Zielfähre, Bargusin 2, würde erst in zwei Stunden kommen und dann auf Olchon am Hafen der Stadt Chuschir anlegen. Also habe ich zwei Varianten:
1. Hier auf die Bargusin 2 warten
2. Übersetzen, nach Chuschir fahren und dann auf die Bargusin 2
Plötzlich erscheint die Bargusin 2. Viel zu früh. Sie legt auch nicht an, sondern fährt kurz ans Kai, um dann wieder abzudrehen. Ein fliegender Händler meint, dass sie gleich wieder kommt, da die beiden regulären Fähren kommen und für drei Schiffe kein Platz ist. Sie käme gleich danach wieder. Klingt logisch. Also ignorier ich die beiden Autofähren und verpasse damit meine Chance Variante 2 zu nutzen. Die Bargusin 2 kommt natürlich nicht mehr. Ist einfach nicht mein Tag.
Dann also übersetzen, Olchon ansehen und alles wieder zurück. Bei Chuschir sehe ich einen schönen Strand, wo ich zelten will. Die Maschine entscheidet, wo ich an dem Abend mein Zelt aufstellen soll, indem sie sich tief in den Sand eingräbt. Von dort an heißt es: Auf nach Chabarowsk.