Zu zweit ist man nicht so allein: Tokio – Kyoto – Tokio

Raus aus der Kapsel, ab zum Flughafen und … äh, wie komme ich zum Flughafen? Wie ein kleines Kind vorm Schokoladenberg stehe ich mit aufgerissenen Augen und offenem Mund vor der Übersichtskarte der Bahnlinien. Zumindest habe ich hier nicht das Problem, wie beim Straßenkarten lesen, ob ich das Ganze überhaupt richtig herum betrachte. Die Übersichtskarte hängt überdimensioniert an der Wand. Das ist die einzige Hilfestellung, die man erwarten darf. Menschenmassen um mich. Da wird doch jemand Englisch können? Aber jeder hat sein eigenes Ziel und ich steh verlassen vor dem Kunstwerk, das kein einziges für mich lesbares Zeichen hat. (Das gezeigte Bild hatte ich selbstverständlich NICHT als Fahrplan verwechselt)

Zumindest weiß ich von der Rezeptionistin, wo ich umsteigen muss. Ich kaufe blind, die günstigste Karte und verschwinde in den Massen. In den Zügen wird meist die nächste Haltestelle auch in römischen Ziffern angezeigt. Juhu! Ich hab den richtigen Zug erwischt! Danach ein Herumirren von einem Schalter zum Nächsten, denn das Schienennetz Tokios wird von mehreren Gesellschaften betrieben und jeder hat seine eigenen Fahrkarten und ich muss einiges nachzahlen, da ich natürlich weiter fahren will, als die erworbene Karte reicht. Aber letztlich komme ich, schweißgebadet, an. Das liegt aber an der unerträglichen Hitze, denn die letzten 80 Minuten der Fahrt sind stressfrei. Spätestens da weiß man, dass man zum Flughafen unterwegs ist. Hochhäuser, Autobahnen und eine klassische holländische Windmühle ziehen an einem vorbei. Es fehlt nur noch Don Quichote. Aber auch der wird noch besucht, um einen Helm zu kaufen und dann doch nicht. Ok, das ist jetzt sehr viel auf einmal. Erstmal Freundin herzlich begrüßen (und negativ auffallen, denn sowas macht man in Japan nicht öffentlich…tststs…naja, am Flughafen kennt man das scheinbar schon und wir werden nicht unmittelbar in ein dunkles Verlies geworfen), die weder Kosten noch Mühen gescheut hat, mir von San Francisco aus entgegen zu fliegen. Wenn schon der Weltreisende es nicht schafft, rechtzeitig über den Pazifik zu schwimmen, jettet die Frau von Welt und rettet den anvisierten Termin des Wiedersehens! Aber natürlich war das alles Absicht von mir, denn so konnten wir beide ein uns vollkommen unbekanntes Land erkunden. Und wie macht man das am besten? Ausgeschlafen! …ja, „mit’m Motorrad“ ist auch richtig. Aber erst mal Energie tanken. Also zwei Tage Tokio in Ruhe genießen. Streiche Ruhe, setze Dauerwahn. Die Reizüberflutung aus Sapporo wird bei weitem übertroffen. Dazu noch die drückende Hitze und fertig ist man. Ich brauch Urlaub! Ab in die Berge! Das Reisemittel der Wahl? Ich hab da schon mal was vorbereitet. Allerdings haben wir nur eine Motorradausrüstung. Also zu einem Laden, den mir Marcin empfohlen hat: Don Quichote. Ich dachte, das wäre sowas wie Louis oder Polo oder Hein Gericke. Stattdessen ist es sowas wie der Hamburger Fischmarkt (MIT St. Pauli!) auf vier Stockwerken, nur ohne Fisch. Die Helmauswahl ist entsprechend gering. Hätten wir getigerte Strapshalter oder Monstermasken gebraucht, wäre die Auswahl unermesslich gewesen. Wie auch immer. Die Helme waren alle viel zu groß für meine Freundin. Der Dickschädel bin demnach ich. Also bekommt sie meinen Helm und ich kaufe mir eine schicke Eierschale mit toller Belüftung! Und dann noch Regenklamotten und es kann los gehen. Eeewig geht es durch Tokio raus. Mein Deo ist sowas von dabei zu versagen. Es geht einfach nicht voran. Eine Ampel nach der anderen. Und alle bieten das volle Programm für uns. Welcher Volld… hatte diese unglaublich däm….. Idee, mit dem Motorrad zu fahren? Allerdings sind die Züge extrem teuer und ein Auto mieten, ist nicht so einfach…und teuer. Also weiter. Irgendwann kündigt sich die Nacht an, so knapp nach Nachmittag. Vom Soziussitz strömt mir schiere Begeisterung über meinen Durchhaltewillen entgegen. Ok, dann tue ich was Gutes. Kurz vor Toyota erblicke ich ein Schild „Hotel and SPA“. Sie wird mich lieben! …zwar befürchte ich horrende Kosten, aber was soll’s. Die Hotelauffahrt rauf und schon stehen wir … in der Tiefgarage. Komisch. Aber schick hier: Vorhänge und Holztafeln für die Stellplätze. Die Treppe schnell raufgesprintet und hoffen, dass was frei ist. Auch hier, alles recht nobel, u.a. mit nem riesigen Bildschirm mit Infos über die verschiedenen Zimmer, nur der Service lässt zu wünschen übrig. Die Rezeption ist nicht besetzt. Ich rufe, klopfe und es kommt jemand. Ahja, die Zimmer bucht man selbst über den Bildschirm. Die Preise sind ok. Ob wir eine Nacht bleiben wollen? Ja, nur eine Nacht. Ups, es wird teurer. Sonderwünsche? Ne. Er empfiehlt mir ein Zimmer mit Sauna. Also Sachen und Freundin packen und hoch ins Zimmer.
Kurz vor der Tür meint sie unverhohlen: „Ist das so ein F*schuppen?“
„Natürlich nicht!“
Doch. Ist es. Als ich die Tür öffne und ich als erstes einen Spielautomaten, dann eine Karaokeanlage und so manch anderes sehe, was ich jetzt nicht aufzähle, wird auch mir klar: Nicht gesucht und doch gefunden: Willkommen in einem der unzähligen Liebeshotels des Landes!
Hier kann man all das machen, was man zu Hause nicht darf oder sich nicht traut, z.B. singen. Aber das habe ich ja in der Mongolei zur Genüge getan.
Komm Kleine, lass uns schick Essen … holen … vom nächsten Supermarkt!
Aber erstmal muss ich den Rezeptionisten überreden, unsere Tür wieder aufzusperren. Komische Sitten. Ist wie in einem Gefängnis…nur was für eins. Alles hat System: Die höheren Preise bei Übernachtung, da die meisten Gäste nur für wenige Stunden vorbei kommen, die Vorhänge und Holztafeln, um sein Gefährt verstecken zu können und die Auswahl der Zimmer am Bildschirm, damit es sehr diskret abläuft.
Am nächsten Tag erreichen wir Kyoto. Herrlich. Ganz anders als Tokio. Zum Wohlfühlen. Zwar kann man da auch Dauerberieselt werden, aber nicht ständig und überall. Ja, hier kann man länger bleiben.

Aber daraus wird nix. Einen Tag können wir abknappsen, dann müssen wir auch schon wieder Richtung Tokio aufbrechen, wenn wir keinen großen Stress mit dem Abreisetermin haben wollen. Wir gönnen uns ein Kobe-Steak, das mindestens so gut ist, wie sein Ruf voraus eilt! Für die Rückfahrt haben wir dazu gelernt: Meide Städte! Egal wie klein, egal wie toll es auf der Straßenkarte nach einer Umfahrung aussieht. Im Zweifelsfall werde ich in den sauren Apfel beißen und für ein paar Kilometer auf den teuren ExpressWay ausweichen. Das ging zwar bei dem einen Mal, als wir es ausprobierten, auf dem Hinweg schief, da wir dort auch im Stau standen, aber ganz so schlimm, wie in den Städten war es dann auch nicht.
So weit wie möglich, wollen wir kleine Straßen fahren. Und das war die absolut richtige Entscheidung. Unglaublich fantastische Strecken in wunderschöner Natur, kaum Autos und: Jede Menge Affen! Plötzlich standen sie auf der Straße und waren mindestens genauso erstaunt wie wir. Über ein paar hundert Meter waren sie unsere Wächter. Damit hatte ich nicht gerechnet. Zwar sind wir zuvor schon Strecken gefahren, bei denen Straßenschilder auf Affen hinwiesen, jedoch gab es hier nur Schilder mit Bären drauf. Die hätten mir noch gefehlt. Aber dieses Glück hatten wir nicht. Stattdessen nahezu allein über sehr schmale, kurvenreiche Straßen. Meine einzige Sorge war, dass, wie bei meiner Fahrt durch den Norden der Hauptinsel, plötzlich ein Eisentor den Weg versperrt. So knapp 50km nach der letzten Kreuzung und ohne Hinweis auf eine langfristige Baustelle. Aber zum Glück diesmal nicht. Nur Massen an Stauseen und ein Irrgarten aus Tunneln und Brücken. Bei Sino suchen wir ergebnislos eine Unterkunft. Ein älterer Herr bietet seine Hilfe an. Er telefoniert rum und setzt sich mit uns an die Straße, … um zu warten. Eine der Lieblingsbeschäftigungen hier. Womöglich holt uns gleich jemand ab und zeigt uns ein Hotel oder ähnliches. Nach ner halben Ewigkeit des Bestaunens einer leeren Straße, meint er dann, ja dann bringt er uns mal zu einem Hotel. Er holt sein Auto und fährt mehrere Kilometer vor uns her. Wir landen auch bei einem ganz normalen Hotel. Alles wunderbar. Warum wir an der Straße saßen, ohne große Konversation, da er kein Englisch konnte, habe ich zwar immer noch nicht ganz verstanden, aber es war ja auch nicht schlimm.
Am Tag darauf fällt meine Streckenwahl dann leider nicht mehr ganz so gut aus, wie zuvor. Keine kleinen Bergstraßen, keine verschlafenen Dörfer, keine Affen. Dafür eine Übernachtung bei einem Onsen in einem Ryokan, also in einem traditionell eingerichteten Wohnraum. Reduktion auf das Wesentliche. Ein niedriger und ein extra niedriger Tisch, jeweils zwei Sitzgelegenheiten und nachts werden die Rollmatten ausgelegt.

Den Fernseher und den Wasserkocher vom letzten Jahrtausend erwähne ich nicht, denn all das haben wir ignoriert. Der Blick in den japanischen Garten mit Koiteich war ja auch deutlich besser. So waren wir gut vorbereitet auf den Endspurt nach Tokio. Es heißt doch so schön: „Aus Erfahrung wird man klug“ und ich ergänze: „und um 30€ ärmer“. Wir nahmen den ExpressWay in die Innenstadt Tokios. Das ging fix. Kostet halt. Aber so hatten wir noch was vom Tag und konnten den Helm sauber machen, damit wir ihn zum Don Quichotte bringen und dort fragen konnten, ob sie ihn vielleicht sonstwie gebrauchen können. Ist ja nix vorgefallen. Nicht angeeckt, zerkratzt oder gar runtergefallen. Quasi neu. Tjaja, die Englischkenntnisse in solch einer Metropole. Es hat auch seine Vorteile, wenn man nicht verstanden wird…oder so. 😉 So nahmen sie ihn und die Regenklamotten (die wir noch nicht mal auspackten) einfach zurück und wir bekamen wieder das Geld. Den Helm haben sie noch nicht mal aus dem Karton genommen, aber die Regenklamotten nahmen sie genauestens in Augenschein. Das war ne günstige Miete. Und ich werde NIE wieder dort hin gehen und einen neuen Helm kaufen. Wer weiß, was der alles schon erlebt hat. Von all den anderen Sachen, die dort verkauft werden, möchte ich auch nicht wissen, wer das schon genauestens in Augenschein nahm. Und weiter geht das Live-Manga auf den Straßen Tokios. Die Masse trägt zwar gewöhnliche Sachen, wie Anzüge für die Männer, Schuluniform (Kniestrümpfe, knappe blaue Röcke, Zöpfe) oder Zimmermädchenkleidung für die Frauen, aber so mancher will halt hervorstechen. Dann trägt auch mal ein Mann Schuluniform (Kniestrümpfe, blauer knapper Rock, Zöpfchen) oder so manche Frau wird zum Schmetterling oder zu einem TeleTubby. Eigentlich kann man alles sehen, ob man es immer will, ist eine andere Frage. Falls man davon zu viele Aggressionen aufgestaut hat, gibt es an jeder zweiten Ecke übergroße Videospielläden, in denen man bei geeigneten Spielen, entweder das Universum retten, die halbe Menschheit auslöschen oder all die Wesen, die man so auf Tokios Straßen sieht, entkleiden kann…bis zu den Knochen. Sollte das noch nicht reichen, geht es aufs Männerklo. Dort zielt man nicht auf aufgemalte Fliegen. Hier wird reichlich animiert die Stärke und Menge beim Wasserlassen gemessen. Ich habe (virtuell) einen Orkan über eine Wetteransagerin hereinbrechen lassen. Es tut mir leid.
Den letzten gemeinsamen Abend in Tokio lassen wir schön ausklingen: Japanische Knoblauchsoße mit halbem Rind und Whisky (auch den gibt es hier). Damit hat sich auch die Frage erübrigt, die wir uns unterwegs stellten: Warum gibt es kein Weidevieh in diesem Land zu sehen? Wir haben es gegessen. Lecker war’s. Schade nur, dass in dieser riesigen Weltstadt die meisten Lokale und Bars selbst am Wochenende spätestens um 23:00h schließen. So streifen wir früh ein letztes Mal durch die Nacht, durch die hell beleuchteten, blinkenden von Reklameschildern überfrachteten Straßen Tokios. Romantisch. Kein Stern schafft es durch dieses Flutlicht hindurch zu strahlen. Somit sind die Sternschnuppen hier die startenden Flugzeuge. Meine Freundin entschwindet dann auch mit solch einem. Darf ich mir jetzt auch was wünschen?

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