Auf Olchon grabe ich meine Maschine , bei dem Versuch zum Strand zu kommen, in den Sand ein. Damit ist der Zeltplatz für heute festgelegt.
Ein Ehepaar kommt, mir zu helfen. Er, Konstantin, ist ein russischer Oberstleutnant der Panzertruppe und ist begeistert einen (ehemaligen) Luftwaffenoffizier mitten in Sibirien zu treffen. Also geht es erstmal zum Essen und dann in eine russische Sauna. Konstantin und seine Frau Eleonora sind ebenfalls mit dem Motorrad auf der Insel und wollen tags drauf wieder nach Hause nach Chabarowsk. Das liegt auf dem Weg nach Vladivostok, weswegen sie mich einladen mitzukommen. Von da an durchquerten wir im Tiefflug halb Sibirien. Von Olchon bis nach Chaborowsk sind es knapp 3.500 km, die die beiden in drei Tagen zurücklegen wollen. Sportlich. Aber meinetwegen. Letztlich werden es sechs Tage mit einem Tag aufgezwungener Pause in Blagoweschtschensk unmittelbar an der chinesischen Grenze.
Ich wollte schon rüber, was angeblich problemlos ohne Visum hier klappt, da die chinesische Stadt darauf ausgerichtet ist, von Tagestouristen besucht zu werden. Kostya und Elya haben aber keinen Reisepass dabei, weswegen sie nicht rüber können. Nach kurzem Hin und Her lass ich den Plan fallen. Die Pause verdanken wir der Initiative eines Freundes Konstantins, der es sich zu seinem persönlichen Problem erklärt hat, meine Maschine von allen kleinen und großen Macken befreien zu lassen. Der beauftragte Mechaniker ist zwar hoch engagiert, hat aber weder das Werkzeug noch die Erfahrung für diese heroische Aufgabe. Aber Letzteres eignet man sich durch simples Probieren an. So kommt es, dass ich ab sofort nach rechts lenken muss, um gerade aus zu fahren und die Halteschraube der Hinterradfederung abreißt. Aber es sind ja noch knapp 1cm anstatt 5cm Stahl drin, weswegen ich problemlos die restlichen 800 km fahren kann, erklärt man mir. Der Mechaniker ist so stolz auf seine Leistung, dass er am Abend mit reichlich Wodka feiert. Den vereinbarten Termin, die Maschine fertig zu machen, verschläft er um knapp fünf Stunden. Dafür dürfen wir selbst die restlichen Arbeiten erledigen, denn er kann nur mit Müh und Not sitzen. Und weiter auf der Strecke.
Die Strecke? Reine Kopfsache.
Kälber
Felder, Felder
Wälder, Wälder, Wälder
Um dem gutmütigen Bild aus Wälder im Regen, Wälder im Nebel und Wälder im Sonnenschein die nötige innere Stimmung zu verleihen, bot mir meine Musiksammlung dazu passend etwas Klassik an. Auf die Frage, was ich denn da höre, antworte ich wahrheitsgemäß und mit der Erwartung einer gewissen Gegenfreude: David Oistrach.
Wen?
David Oistrach. Russischer Geiger. Fantastisch! (und das meine ich auch)
??? Kennen wir nicht
??? Nicht möglich! Russe!
Muss jemand Neues sein
Ne, ist schon ne zeitlang tot
Aha. Moment. David? Jude! Dann wohnte er nur in Russland und war kein Russe. Brauchen wir nicht zu kennen.
Ich melde mich ab. Das ist bestimmt meine zehnte Erfahrung mit solchen Äußerungen. Mittlerweile gewöhne ich mich daran, dass ich nachdem ich nach meinem Namen gefragt werde, noch die Nachfrage kommt, ob ich jüdischer Abstammung sei. Ungezählt die abfälligen Bemerkungen über Kasachen, Usbeken, Kirgisen oder Mongolen. Das Harmloseste ist die Bezeichnung „Schwarze“. Den Rest will ich gewiss nicht in meinem Blog lesen. Und das in einem Land, das an fast allen Ecken sichtbar, den Sieg über die Faschisten feiert. Mittlerweile ist die anfängliche Begeisterung einer gewissen Ernüchterung erlegen. Weiterhin sind die Menschen äußerst gastfreundlich und fürsorglich, aber jede Münze hat zwei Seiten. Man bekommt nicht nur zu essen und zu trinken oder gar einen Schlafplatz, es wird auch für einen gedacht und entschieden. Insbesondere bei Reparaturen. So kommt es, dass eine Pressnaht am Federbein als Riss interpretiert wird und kurzerhand aufgeflext und wieder geschweißt wird. Ich saß seelenruhig ein paar Kilometer weit weg und ahnte noch nicht mal, was ich Tags drauf zu sehen bekam. Jetzt werde ich ein neues Federbein brauchen für den TÜV. Aber es war gut gemeint.
Wie auch die Entscheidung, dass ich bloß nicht allein in Chaborowsk unterwegs sein darf. Was da alles passieren kann. Ich frage mich nur, wie ich es quasi allein hierher geschafft habe? Und irgendwie passt es nicht, wenn man abgesehen von diesen guten Ratschlägen hört, dass Russland das beste Land sei, da die Menschen, die Gutmütigsten seien und keiner Fliege was zu Leide tun. Achja, und hier gibt es das beste Essen, die schönsten Frauen, die höchste Kultur, die schönste Musik, die anmutigste Sprache…und wie kann ich das nur vergessen: die besten Mechaniker. Aber allein auf der Straße am helllichten Tag. Selbstmord. Schon witzig. Wenn man all das über sich ergehen lässt, kann man eine ziemlich unterhaltsame Zeit verbringen. Hatte meine erste Jam-Session in diesem Jahrtausend. Über einer der unzähligen Werkstätten, befand sich ein Podest mit Gitarren, Bass und Schlagzeug. Aus purer Langeweile setzte ich mich da ran und probierte herum. Konstantins Freund gesellte sich dazu und spielte auf der Gitarre und sang. Keine Ahnung was er da für ein Lied wählte, ob er es spontan so zusammenstellte oder ob es ein bekannter Song Russlands war, ich spielte mit. Wir versuchten dieses und jenes und wenn ich richtig gut gewesen wäre, hätten wir bestimmt nen Chartbreaker entworfen. So blieb es bei einem ungezwungenen Garagen-Lalelu. Und nein: Die Videoaufnahme davon werde ich nie, nie, nie veröffentlichen. Es gibt keine. Nein. Bestimmt nicht. 🙂