Die Strecke von Chabarowsk nach Vladivostok erledige ich an einem Tag ohne große Zwischenvorkommnisse oder irgend etwas Erwähnenswertem. Meist gut geteert, ab und zu ne Baustelle mit ein wenig Schotter. Das war’s. Aber Vladivostok ist erwähnenswert bzw. was ich dort erlebe.
Kostya ruft vor meiner Abfahrt seinen Bekannten Alex des Motorradclubs „Iron Angels Vladivostok“ an, um mich willkommen zu heißen. Ich erhalte die Adresse und Alex‘ Telefonnummer. Der Verkehr in Vladivostok ist furchtbar. Eigentlich herrscht immer Stau. Neugierige Blicke verfolgen mich. Ein Motorradfahrer, der lässig gegen eine Straßenlaterne lehnt, nickt mir zu. Ich nicke zurück. Weiter geht’s durch den Smog. Puh, gleich geschafft. Letzte Ampel und noch knapp 200 m. Bin schon mal auf das Clubhaus gespannt. Der Motorradfahrer von eben, steht plötzlich mit seiner Maschine neben mir. Er nickt mir zu. Ich nicke zurück. Grün, Gas, er geradeaus, ich muss rechts abbiegen. Die angegebene Adresse existiert nicht wirklich. Eigenartige Gegend. Jedes Grundstück ist nicht nur mit mindestens zwei Meter hohen Mauern abgegrenzt. Es befinden sich auf den Mauern auch Stacheldrahtzaun, einzementierte Glasscherben und in jedem Grundstück scheint es mindestens einen Wachhund zu geben. Meine Anwesenheit wird durch ein dutzend Hunde bestätigt. Frei nach Descarte: „Sie bellen, also bin ich.“ da brauch ich nicht nachfragen, wo sich der Club befindet. Also Alex anrufen. Blöd nur, dass er kein Wort Englisch kann. Naja, mein Russisch ist zwar katastrophal, aber zumindest verstehe ich ihn, dass ER neben mir an der Ampel stand und ich einfach zurück zur Ampel müsse und dann rechts. Gehört, getan. Abgestiegen. Verbrüdert. Wodka getrunken. Gegessen. Geredet. Geduscht. Auf dem Sofa breit gemacht und geschlafen. Sehr nett hier. Nicht unbedingt schön, aber ich komm zur Ruhe. Es fehlt lediglich an ordentlichen sanitären Einrichtungen. Zum Duschen muss eine Schüssel Wasser reichen, bzw. bei meiner Ankunft werde ich zur Wohnung von einem Clubmitglied gefahren. Damit ich mich nicht vor Ort unsicher fühle, quartieren sich Alex und Roman, ein weiteres Clubmitglied ebenfalls ins Clubhaus ein.
Tags drauf, zeigen sie mir die Stadt und wie man hier mit nem Motorrad trotz Stau zügig voran kommt: Immer zwischen den Fahrzeugen durch, jede Lücke nutzen, im Zweifel die Gegenspuren verwenden. Aktives Fahren ist angesagt. Von den Autofahrern wird das kommentar- bzw. huplos akzeptiert. Und falls nicht, bekommt man es eh nicht mit, da eh ständig gehupt wird. Eine Geräuschkulisse zum Davonlaufen. Die Luft ist zum Schneiden dick. Es geht mehrfach zum Treffpunkt der Biker: Ein kleiner Platz auf einem Hügel mit Imbiss, von wo man den neuesten Stolz der Stadt betrachten kann: Eine neue Brücke, die am Tag nach meiner Ankunft feierlich eröffnet wird.
Diese Brücke verbindet die zwei gegenüberliegende Seiten der Stadt, die wie ein U geformt ist. Bislang musste man immer durch das Zentrum, wenn man von einem Ende zum gegenüberliegende Ende wollte. Daher auch der immerwährende Stau. Jetzt erhofft man sich eine deutliche Verbesserung. So bekomme ich dieses Bauwerk mehrfach zu allen möglichen Uhrzeiten und Lichtverhältnissen zu sehen. Eigentlich hätte ich Bilder machen müssen, wie die Menschen am Aussichtspunkt voll großer Erwartung diese Brücke anstarrten. Habe ich aber nicht, da ich dies immer so interpretiert hatte, dass in jedem Moment etwas Besonderes passieren müsste. Und so blickte ich auch wie gebannt darauf.
Was mir besonders positiv auffällt, und eigentlich erstaunlich ist, dass man das überhaupt erwähnen muss: Ich kann mich frei bewegen. Es wird nicht für mich gedacht, geplant oder gar entschieden. Es sind zwar alle an meinem Wohl interessiert, somit fehlt es an nichts, aber das bedeutet hier nicht, dass ich in einen goldenen Käfig gesperrt werde. Ob das daran liegt, dass Vladivostok als große (Welt-)Hafenstadt auch weltoffener ist? Es kommt mir zumindest so vor. Nichts desto trotz: Bei einem Event MUSS ich dabei sein. Das Bikermusikfestival steigt an einem Strand in der Nähe.
Ob ich auch Gitarre spielen könnte?
Nö!
Ob ich singen könnte?
Das wollt Ihr nicht wirklich!
Egal. Ich muss mit. Ist ja auch lässig, dazu muss mich keiner zwingen. Tja, wenn ich gewusst hätte, was mich erwartet…ne, ganz so schlimm war es auch wieder nicht.
Ich analysiere mal das Wort „Bikermusikfestival“.
Biker: Passt. Waren alles Biker vor Ort, bzw. deren Sozia. Die meisten sind allerdings nicht von den „Iron Angels Vladivostok“.
Musik: Ok, jetzt wird’s schwierig. Zumindest nicht permanent als solche zu erkennen.
Festival: Ja. Eine Ansammlung von wenig mehr als 30 Leuten als Festival zu bezeichnen, ist mutig.
Und?? Wer hat’s eröffnet? Ratet mal. Zum Glück musste ich nicht singen. Irgendein (wirklich netter) Typ in Bundeswehr-Flecktarn spricht mich an, obwohl er kein Englisch oder gar Deutsch kann. Aber das ist ja noch lange kein Grund, kein Gespräch zu führen. Er kann etwas Gitarre spielen und kennt den Text seiner selbst komponierten Lieder. Ich darf, nein soll, nein muss ihn auf so einer Schellentrommel begleiten. Ich glaube, das habe ich das letzte Mal im Kindergarten gemacht. Entsprechend professionell sah das dann aus. Und jetzt kommt nicht damit daher, dass ich als Schlagzeuger das doch können muss. So ne Schellentrommel ist Kleinkram! Das fass ich doch nicht an!! 😉 Aber es gab KEIN Schlagzeug auf diesem Bikermusikfestival! Also bin ich da durch. Zumindest konnte ich den Takt erkennen und habe bei meinem Solo (ja, auch das blieb mir auf diesem Meisterwerk der Instrumentenbaukunst nicht erspart) nicht vollends versagt. Ich erkannte es daran, dass keiner mit Bierflaschen auf mich warf. Womöglich litt ich von allen Anwesenden am meisten. Ok, das Festival wurde eröffnet. Es kann nur noch besser werden. Es kann, aber es wurde nicht besser. Eigentlich wurde es immer schlimmer. Als nächstes kam ein Biker im fortgeschrittenen Alter auf die Bühne, der mit Playback „Let it be“ von den Beatles auf seiner … haltet Euch fest … Blockflöte spielte. Mein Gesicht hätte ich sehen wollen. Ich hatte jederzeit damit gerechnet, dass er entweder diese Flöte in die „tobende“ Menge wirft oder in Stücke bricht, um dann unter heftigsten Metal-Klängen, auch das Lied auseinandernimmt, aber daraus wurde nichts. Stoisch bis zum letzten Ton spielte er das Lied, so gut er konnte. Ein knapp Zwanzigjähriger brachte dann wirklich so etwas wie Musik hervor, als er auf seiner Gitarre ein selbst komponiertes, rocklastiges Lied spielte. Aber das war’s. Als nächstes kam die Perle von einem Biker dran. Perle? Klein und rund. Ihre Hobbys müssen im Sado-Bereich liegen. Anders kann man es nicht erklären, wie sie im viel zu knappen Mini irgendwelche russischen Schlagerpop-Lieder quietschend wiedergab. Inklusive hoppelnder Tanzeinlage. Das war eine Mischung aus den Spice Girls und den Kessler-Zwillingen. Jeweils immer das Schlechteste. Die Lieder müssen wohl der absolute Hammer gewesen sein, denn das war stimmungsmäßig der Höhepunkt des Festivals. Mir wurde es zu viel und ging am Strand spazieren. Ein Strand, der vollständig aus (mittlerweile stumpfgeschliffenen) Glasscherben bestand. Das habe ich auch noch nicht gesehen.
Trotz einer völlig überdimensionierten Musikanlage für die Größe der Veranstaltung, habe ich am Strand endlich meine Ruhe. Naja, Musik ist bekanntlich Geschmacksache. Und es ist ja nicht unbedingt so, dass Deutschland als Musikexport ausnahmslos geeignet ist. Da erinnere ich mich an die zwei Tage in Blagoweschtschensk bei Kostyas Freund Alexey. Kaum sind wir bei Alexey zuhause angekommen, geht es mit seinem Jeep durch Blagoweschtschensk zu einem Restaurant. Voller Stolz dreht er sich zu mir um, und sagt: „Deutsche Musik!“ und dreht das Autoradio lauter. Rammstein. Oje. Sehr beliebt in Russland. Hört man sehr oft. Irgendwann ist die CD aus. Erneut dreht er sich um, und meint: „Deutsche Musik!“ Rammstein? „Njet! Tokyo Hotel!“ Ich wünsche mir Rammstein zurück. Das erste Mal in meinem Leben. Es ist einfach nur schlimm. Bislang hatte ich eine stark ausgeprägte Abneigung gegenüber dieser Band, ohne auch nur annähernd alle ihre Lieder zu kennen. JETZT kenne ich alle ihre Lieder (zumindest fühlt es sich so an) und weiß, dass die Abneigung vollends begründet ist. Alexey singt begeistert mit. Es folgt eine zweite CD von ihnen, aber auch die ist irgendwann zu Ende. Wer glaubt, das Leiden hat ein Ende, irrt. Deutschland hat noch mehr zu bieten als Rammstein und Tokyo Hotel. Es kommt die Krönung. Dieses Mal kündigt er es aber nicht an, da er scheinbar nicht weiß, dass es eine deutsche Gruppe ist. Ich erkenne sie aber innerhalb weniger Augenblicke und leide unermesslich. Ich wünsche mir zwar nicht Tokyo Hotel zurück, denn ich weiß eigentlich nicht, was schlimmer ist, aber ich wünsche mir einen Blitz, der in das Auto einschlägt und die Elektrik ausfallen lässt. Aber keine Sternschnuppe in Sicht, die mich erhören könnte. Somit muss ich bis zum Schluss, die Ikonen des schlechten Geschmacks anhören: Modern Talking.
Zurück nach Vladivostok. Alex und die Biker der Iron Angels haben auch genug und wollen los. Da bin ich dabei. Zuvor werde ich sehr nett von allen Anwesenden verabschiedet.
Danach ging es wieder zur Brücke, die immer noch nicht für den Straßenverkehr freigegeben wurde, aber bei Sonnenuntergang bislang noch nicht betrachtet wurde und zurück zum Clubhaus. Am nächsten Tag will ich dann eigentlich los, aber es setzt ordentlicher Regen ein. Alex ist KFZ-Mechaniker und bietet mir an, meine Maschine mal durchzuchecken. Gute Idee. Da war ja noch das Problem, dass ich seit Blagoweschtschensk ja nicht mehr gerade aus fahre, wenn ich gerade aus lenke. Er behebt das Problem und ich kann tags darauf los, um Richtung Japan auf Umwegen zu erreichen.
ja hallo, ja ich komme biken mit DirBrüderchen! Geplant 2013 Bodensee-Vladivostock mit einem Freund. Ich mit BMW GS 100 PD. Details noch nicht festgelegt. Freue mich schon auf die Iron Angeles
ExplorerEric
Klasse! Viel Spaß dabei! Ihr werdet viele tolle Erlebnisse sammeln. Leider werde ich erst mal für die nächsten Jahre ordentlich arbeiten müssen. Aber gern gebe ich Infos, Tipps und stell den Kontakt zu den Iron Angels her!
Schachti